MITTEN DRIN STILL. EIN IMaginäres Kurz-Interview

Frage: Entschuldigen Sie, wir haben wenig Zeit.... Begreifen Sie sich eher als Künstler oder als Wissenschaftler, eher als Komponist oder Theoretiker?

Antwort: Kennen Sie diese Miniatur von Morton Feldman: Half a minute it's all I've time for? [1] Mir kommt sie gerade in den Sinn, da Sie mich so drängen, mich kurz zu fassen...

Um Ihre Frage zu beantworten: Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Musiktheorie und Komposition – und diese Beschäftigung kann entweder primär wissenschaftlich oder künstlerisch orientiert sein. Zwischen den Bereichen ist manchmal gar nicht ohne weiteres zu trennen, und durch willkürliche Grenzziehungen ergeben sich große Missverständnisse. Es wäre verengend, die Theorie allein mit Wissenschaft zu assoziieren – und umgekehrt gebe ich doch meine Kreativität nicht an der Garderobe ab, wenn ich Forschung betreibe! Um auf Feldman zurückzukommen: Half a minute ist deshalb so köstlich, weil Feldman auf seine unnachahmliche Art so beginnt, als hätte er wie immer alle Zeit der Welt...

Frage: Was sind Ihre bevorzugten/aktuellen Forschungsgebiete?

Antwort: Alte und Neue Musik, und die geheimen Beziehungen zwischen ihnen, die Bernd Alois Zimmermann einmal als »freundschaftliche« charakterisierte. [2]

Frage: Sie haben, wie ich Ihrem Werkverzeichnis entnehme, erst relativ spät mit dem Komponieren angefangen. Ist das nicht ungewöhnlich? Und standen sich vielleicht der Theoretiker und der Komponist zunächst im Weg?
 
Antwort: Ich bin überhaupt ein musikalischer Spätentwickler, insofern fügt sich der späte Beginn meiner kompositorischen Tätigkeit ja stimmig ins Gesamtbild ein. Aber Ihre Frage berührt dennoch einen wesentlichen Punkt, der vermutlich mit einer allzu strikten Trennung zwischen ›Komposition‹ und ›Theorie‹ zu tun hat – eine Trennung, die im Rahmen meiner Ausbildung [Karlsruhe 1990-97] eine weitgehend zementierte war und (in den Worten von Wolfgang Rihm) den Gegensatz zwischen »Kunst« und »Fertigkeit« beinhaltete.[3] Ich schloss deshalb das Hauptfach Musiktheorie mit der Einsicht ab, zwar den Prolationskanon à la Ockeghem zu beherrschen, wenn ich mich in die technische Herausforderung hineingrub, aber zum ›eigentlichen Komponieren‹ einfach nicht berufen zu sein. Es war später eine große Befreiung zu verstehen, dass auch (bzw. gerade) ein spielerisch-konzeptueller Ansatz zur Erfindung verhelfen kann: »Komponieren heißt spielen«, um mit Pascal Dusapin zu sprechen. [4] Kompositorische ›Ableitungsspiele‹ machen in meiner aktuellen Praxis tatsächlich einen großen Teil der Arbeit an einem Stück aus.  

Frage: Waren es denn konkrete Umstände oder Ereignisse, die den ›Bann‹ brachen?

Antwort: Ja, vor allem die Inspiration durch die Folkwang-Atmosphäre seit 2006 – und das ganz andere, vor allem praxisorientierte Konzept von Theorie, das da am Hause herrschte: Sie half mir umzusetzen, was ich bei frühreren Lehrern, allen voran bei Bernd Asmus, gelernt hatte. Den kompositorischen Durchbruch brachte letztlich die im Grunde simple Einsicht, gerade das Spannungsfeld zwischen ›Alter‹ und ›Neuer‹ Musik, das mich seit jeher beschäftigte, zum Gegenstand meiner eigenen Sachen zu machen.

Frage: Vermutlich interessiert Sie auch deshalb das Themenfeld Analytische Instrumentation – kompositorische Bearbeitung – Rekomposition in ganz besonderem Maße?

Antwort: Ja, natürlich – es ist immer irgendwie präsent, obwohl mein Werkverzeichnis bislang noch gar nicht so viele explizite Bearbeitungen umfasst. Doch Sciarrino hat schon Recht: Die Spielarten der Bearbeitung sind tatsächlich unendlich. (»Infinite ... le gradazioni del trascrivere«. [5])

Frage: Und sonst?

Antwort: Sonst beschäftige ich mich abseits des geschäftigen Neue Musik-Betriebs mit ein paar Fragestellungen, die mich in besonderer Weise interessieren. Da gibt es die Klavier-Bagatellen, die mir seit Jahren eine Art konzeptuelles Tage- oder besser »Modellbuch« sind. Doch da insgesamt (viel) zu wenig Zeit fürs Komponieren bleibt, muss ich die Beschränkung zum Programm erheben und mich auf kleinere Projekte verlegen, die ohne allzu großen Aufwand zu realisieren sind. Besonders reizvoll ist es, wenn die Impulse von künstlerischen Weggefährten kommen, wie im Falle der Beschwörungsforme(l)n für Hammerklavier von Katharina Olivia Brand. Immer wieder erfahre ich aufs Neue, dass die Beschäftigung mit Alter Musik unglaublich inspirierend sein und unmittelbar ins Zentrum der eigenen Interessen führen kann. Insofern ist die Komposition für mich selbst zuweilen einfach der verlängerte Arm der Theorie. Und auch eine Form künstlerischer Forschung, wie zuletzt in Canzonetta sopra mi-fa (2019) für Streichtrio.

Frage: Worin das Glück eines Komponisten liegt, brauche ich wohl nicht zu fragen. Doch worin liegt das Glück des Theoretikers?

Antwort: Oh, da gibt es vieles. Lange Gespräche mit Gleichgesinnten, nächtliche Neuentdeckungen, begeisterte Gesichter im Unterricht. Überhaupt eine geglückte Stunde. Von Schülern lernen! Ein schöner Text mit überraschenden Wendungen. Eine rätselhafte Stelle.... 

Eine Sache will ich aber noch loswerden, da sich Ihre Frage wie eine abschließende anfühlt. Kürzlich bin ich in Robert Schumanns Briefen auf eine Passage gestoßen, die mich sehr berührt hat. Er bemerkt da einen Wandel seiner Selbstwahrnehmung beim Improvisieren und führt diesen auf seine intensivierten theoretischen Studien zurück; und dann beschreibt er die Erfahrung, beobachtend aus der Situation herauszutreten und dennoch im Zentrum der Sache zu sein: »mitten drin still« ist seine Formulierung. [Im originalen Wortlaut: »Und allerdings fühl’ ich, dass die theoretischen Studien guten Einfluß auf mich gehabt haben. Wenn sonst alles Eingebung des Augenblicks war, so sehe ich jetzt mehr dem Spiel meiner Begeisterung zu, stehe vielleicht manchmal mitten drin still, um mich umzusehen, wo ich bin.« [6] ] »Mitten drin still, um mich umzusehen«: Das ist eine wunderbare Umschreibung! Zauber der Theorie: mitten drin sein. Den Überblick haben im Zentrum der Begeisterung, und diesen Überblick anderen vermitteln zu können. Wenn das (manchmal) gelingt, ist es ein großes Glück.   

 


+++

[1] https://populistrecords.bandcamp.com/track/morton-feldman-half-a-minute-its-all-ive-time-for-2 (23.2.2019)
[2] Bernd Alois Zimmermann, Über die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der »bösen neuen« und der »guten alten« Musik, in: MusikTexte 24 (April 1988), S. 19-27.
[3] Wolfgang Rihm, Spur, Faden. Zur Theorie des musikalischen Handwerks (10. Juni 1985), in: Lust am Komponieren, hrsg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Kassel u. a.: Bärenreiter 1985, S. 24-33: 31.
[4] Pascal Dusapin, Eine Musik im Werden, hrsg. von Thomas Meyer, Mainz 2017, S. 47.
[5] Salvatore Sciarrino, »Esercizi di tre stili. Altre elaborazioni da Domenico Scarlatti« [2000], in: Salvatore Sciarrino, Carte da suono (1981-2001), hrsg. von Dario Olivieri, Palermo: CIDIM 2001, S. 199-200: 200
[6] Robert Schumann, Jugendbriefe. Nach den Originalen mitgetheilt von Clara Schumann, Leipzig 1910, S. 261.